Exhibition:
Sunah Choi
Studiolo
RL16, Berlin
Deutsch
Ich möchte meine Wahrnehmung nutzen wie ein Werkzeug oder Material
Ein Gespräch zwischen Sunah Choi und Barbara Buchmaier, rückblickend auf die Ausstellung Studiolo bei RL16 im Frühjahr 2022. Das Gespräch wurde im Dezember 2022 geführt.
Barbara Buchmaier: In der Rückschau auf Deine Ausstellung Studiolo bei RL16 im Frühling 2022 finde ich es spannend noch mal zu schauen, wie sie anknüpft an Deine Ausstellungen davor und danach und zu fragen, wie unterschiedlich deine Ansätze waren für die drei Orte; im Vorfeld war es die Schau Knotenfänger im Kunstverein Reutlingen 2021, in einer ehemaligen Industriehalle, in der mehrere der Arbeiten, die Du dann bei RL16 anders oder ähnlich im neuen Kontext gezeigt hast, schon zu sehen waren – und später dann die Ausstellung Rosa in Innsbruck, in der Galerie Johann Widauer, im Herbst 2022, wo Du auch wieder viele Glasarbeiten präsentiert hast, die sich aber nicht eins zu eins überschnitten mit der Ausstellung bei RL16. Dabei fand ich es auch spannend, dass Du den Titel Rosa der Ausstellung in Innsbruck irgendwie mitgenommen hast von einer Arbeit für RL16. Wie würdest Du die Übergänge, die unterschiedlichen Herangehensweise und verbindenden Elemente zwischen den drei Ausstellungen in Reutlingen, Berlin und Innsbruck beschreiben?
Sunah Choi: Im Kunstverein Reutlingen habe ich zum ersten Mal einige Arbeiten mit bemalten Glasscheiben in Verbindung zu Stahl gezeigt. In der Zeit war ich sehr interessiert an einer Gegenüberstellung von gegensätzlichen Materialien und deren skulpturalem Potenzial in Bezug auf Architektur, Geschichte, Körperlichkeit oder Wahrnehmung. Und das hat auch eine wichtige Rolle gespielt bei der Entstehung der Ausstellung bei RL16, die ich anschließend plante. Die Entwicklung einer Idee oder einer Arbeit ergibt sich bei mir oft durch verschiedene Ausstellungen hindurch – wie in Reutlingen, in Berlin und in Innsbruck, obwohl sie sich mit unterschiedlichen Themen beschäftigen. Es ist ein dialektisches Zusammenspiel.
Rückgewinnung eigener Arbeiten
BB: Ich erinnere mich, dass Dir die anfängliche Idee, Objekte aus der Ausstellung in Reutlingen in Berlin nochmals auszustellen, nicht gefallen hat. Dein Plan war, neue Arbeiten zu produzieren. Dann aber wurde die Vorstellung, die regalartigen Holzskulpturen aus Reutlingen wieder einzusetzen, zu einem neuen Moment, zu einer neuen Motivation, über die kommende Ausstellung nachzudenken. Da erinnere ich mich gut, an diese Entwicklung: zu überlegen, wie kann man bereits gezeigte, ursprünglich exklusiv gedachte Arbeiten neu sichtbar machen?
SC: Wenn ich die Gelegenheit habe, eine Ausstellung zu realisieren, versuche ich möglichst, neue Arbeiten dafür zu entwickeln. Arbeiten, die explizit für die Ausstellung, die Ausstellungsräume konzipiert und produziert werden. Aber dieses Prinzip bei jeder Ausstellung durchzuziehen, gelingt nicht immer. Trotzdem hat es mich bisher immer weitergebracht.
BB: Wie kam es dann dazu, dass Du für RL16 davon abgewichen bist? Was hat Dich dazu bewogen, doch diesen Versuch zu machen? Wie hast Du es umgesetzt?
SC: Ich wollte bei RL16 die Themen, das Material, das Medium oder auch die Herangehensweise aus vorherigen Ausstellungen weiter-, aber auch anders verfolgen. Ich habe angefangen, über bereits vorhandene Arbeiten nachzudenken, die mir sinnvoll vorkamen, um sie in einen anderen Kontext zu überführen, indem ich sie zum Teil verändere, also etwas wegnehme oder addiere. Es geht um den Aspekt der Wiederverwendung und Rückgewinnung eigener Arbeiten.
BB: Bei RL16 war das eine besondere Herausforderung. Kann man das so sagen?
SC: Ja, das stimmt. Aber ich war dann doch optimistisch, dass etwas Neues entstehen wird, obwohl ich auf alte Arbeiten zurückgreifen würde. Weil die Räumlichkeit bei RL16 sehr anders war und das Konzept, das ich mir mittlerweile überlegt hatte, sich von vorherigen Ausstellungen unterschied. Bei der Planung einer Ausstellung trifft man Entscheidungen zwischen verschiedenen Möglichkeiten, um den Ideen passende Formen zu geben und dafür das richtige Material zu finden. Andere Möglichkeiten bleiben als Alternative liegen.
BB: Du meinst, für ein anderes Mal …
SC: Sie bleiben im Kopf oder im Skizzenbuch – oder der als Nebenprodukt oder Überbleibsel im Atelier stehen. Ich versuche dann, solche aufgehobenen, nicht realisierten Ideen oder halbfertigen Arbeiten bei späteren Ausstellungen zurückzuholen und weiterzuentwickeln. So entstand zum großen Teil auch die Schau bei RL16.
Fünf Räume
BB: Die Ausstellungsräume, die in der 2. Etage eines Mietshauses liegen, erinnern ja vom Ambiente an eine große Altbauwohnung …
SC: Inzwischen wusste ich, dass ich inhaltlich in der Ausstellung den historischen Begriff „Studiolo“ künstlerisch aufarbeiten wollte. Ich habe für jeden der fünf Räume eine Installation entworfen. Den Installationen im großen vordersten und hintersten Raum habe ich eine ähnliche Grundstruktur gegeben – eine regalartige Holzskulptur an der Wand und eine Art Ensemble von Objekten auf entrollten Papierbahnen auf dem Boden. Der mittlere Raum wurde abgedunkelt und mit Scheinwerfern beleuchtet. Ebenfalls auf ausgerolltem Papier habe ich dort größere Skulpturen und Glasplatten arrangiert. Zwei Räume zwischen den gerade erwähnten drei waren visuelle Pausen oder Brüche, die aber letztendlich auf inhaltlicher und visueller Ebene mit allen Räumen verbunden waren. Es gab einen roten Faden, der sich durch alle Räume zog.
Rosa Luxemburg
BB: Du hast bei RL16 eine ortsspezifische Arbeit gezeigt, eine rosa bemalte Glasscheibe, die – auch als Referenz auf Rosa Luxemburg – je nach Lichteinfall einen wandernden rosa Schatten in einen der Ausstellungsräume „zauberte“.
SC: Die Arbeit Rosa L. ist nur ein paar Tage vor der Eröffnung während des Aufbaus entstanden. Ich bekam früh genug Zugang zu den Räumen und konnte dort länger verweilen. Weil ich lange Zeit in den Räumen war, konnte ich ortsspezifische Details beobachten, wie zum Beispiel die verschiedenen Ausrichtungen der vielen Fenster, die sich verändernden Lichtverhältnisse über den Tag, die unterschiedlichen Ausblicke durch die Fenster, die Reflexion der Fassadenfarbe vom Nachbarhaus gegenüber … all diese Details übten über den Tag hinweg direkten oder indirekten Einfluss auf die Räumen aus.
In einem der großen Räume habe ich an einem sonnigen Tag gesehen, dass nur für ein paar wenige Stunden direkter Sonnenschein durch das Fenster fällt. Weil es sich um ein Erkerfenster handelte, kam ich auf die Idee, im schmalen kleinen Raum zwischen den Doppelfenstern eine farbige Glasscheibe zu platzieren, die dieselbe Größe hat wie das Fensterglas. Dann würde ein farbiger Schatten an der Wand und auf dem Boden entstehen, der nur an einem sonnigen Tag und nur einige Stunden nachmittags zu sehen sein würde. Der Schatten, der einem schmalen Streifen ähnelte, wanderte dann innerhalb von zwei Stunden minimal nach rechts, um anschließend zu verschwinden.
BB: Die Idee, eine farbige Scheibe in den bestehenden Zwischenraum eines Doppelfensters zu addieren, finde ich toll. Viel exklusiver, als wenn Du einfach nur die existierende Fensterscheibe farbig bemalt hättest. Das wäre ja naheliegend gewesen …
SC: Selbst wenn eine Glasscheibe nur acht Millimeter dünn ist, ist sie trotzdem ein dreidimensionales Objekt und hat Präsenz, wenn sie gezielt eingesetzt wird. Ich empfand es als eine unprätentiöse und subtile Geste, etwas in eine bereits vorhandene architektonische Struktur einzufügen. Durch unregelmäßige Pinselstriche bekam das transparente Glas dann einen abstrakten Werk-Charakter.
Auch für einen anderen Raum habe ich eine Rauminstallation mit farbig bemalten Glasscheiben entworfen. Diese wurden von drei Scheinwerfern beleuchtet, was ebenfalls farbige Schatten erzeugte. Diese Arbeit Das Kabinett wirkte jedoch kontinuierlich und standhaft. Im Gegensatz hat mir die Idee mit dem wandernden Sonnenlicht gefallen. Nur wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt waren, konnte man die Arbeit vollständig sehen.
BB: Gleichzeitig hast Du mit dem Titel einen Bezug zu Rosa Luxemburg hergestellt. Und dann die Präsenz dieser historischen Figur durch den Schatten in bestimmten Uhrzeiten ermöglicht – also imaginär sozusagen.
SC: Die Idee mit Rosa Luxemburg kam, als ich über die mögliche Farbe der Glasscheibe nachdachte: Weil „Rosa“ im Deutschen auch die Bezeichnung für eine Farbe ist. Ich fand es schön, mir diesen wandernden Schatten als Besuch von Rosa Luxemburgs Geist vorzustellen. RL16 befindet sich ja gerade in der Straße, die nach ihr genannt ist. Damit der Titel nicht zu offensichtlich wirkt, habe ich die Arbeit Rosa L. genannt. Die Ausstellung lief fast zwei Monate lang und in der Zeit hat der Stand der Sonne das Bild im Raum regelmäßig langsam verändert.
BB: Und wie kam dann der Titel Rosa für die spätere Ausstellung in Innsbruck zustande?
SC: Der Ausstellungstitel Rosa in Innsbruck hat mehr mit der allgemein verhafteten Idee oder Konnotation der Farbe zu tun, damit wollte ich mich schon immer mal beschäftigen. Die Arbeit Rosa L. bei RL16 war eine Art Auslöser. Rosa wird als durch Weiß geschwächtes Rot verstanden. Ursprünglich galt Rosa als eine männliche Farbe, eine Farbe für Jungen. Rosa steht auch für die menschliche Hautfarbe allgemein, kann aber auch als Name für eine Person stehen. Gleichzeitig ist das eine fragwürdige Bezeichnung, weil man sich fragen muss, wessen Haut man hier meint? In der Ausstellung in Innsbruck präsentierte ich eine Arbeit, in der eine rosafarbene runde Glasscheibe auf einer unbehandelten Stahlkonstruktion lag, die an eine menschliche Figur erinnerte. Es gab weitere farbige Glasscheiben in der Ausstellung, die ebenfalls in Verbindung zu menschlicher Körperlichkeit standen.
Ausstellungstitel
BB: Wenn man sich Deine Biografie anschaut, also die untereinander gelisteten Einzelausstellungen, sieht man, dass fast jede davon immer ein Wort als Titel hat und dass dieses sehr bestimmt, sehr gut ausgewählt wirkt. Und in unserer Zusammenarbeit habe ich miterlebt, wie Studiolo als Ausstellungstitel für RL16 zustande kam. Daher die Frage: Wie kommst Du auf Deine Ausstellungstitel oder welche Vorarbeit leistest Du, um diese zu finden.
SC: Ich finde es weniger interessant, wenn ein Titel direkt illustriert oder beschreibt, was zu sehen ist. Mit einem Titel kann man vielmehr spielen und das Gezeigte, den Ort bereichern.
BB: Ein Titel also als ein komplexes Werkzeug oder als Behälter?
SC: Ja, ich möchte den Titel so einsetzen, dass er öffnet und gleichzeitig umfasst – ohne zu beschreiben. Ein Titel entspricht vielleicht einer Tür oder einem Fenster zu den Werken und zur Ausstellung. Irgendwann habe ich angefangen, mir möglichst ein Wort als Ausstellungstitel zu überlegen, als experimentelles Konzept, jedoch nicht als Grundprinzip. Es gibt aber keine besondere Formel oder Methode, um den Titel zu finden. Meistens kommt die Idee, wenn ich lang und intensiv genug bei der Sache bin.
BB: Für die Ausstellung bei RL16 brachtest Du ja die Idee Studiolo mit: ein historischer Begriff.
SC: Auf den Ausstellungstitel Studiolo kam ich durch meine Recherche. Ich bin auf diesen Begriff gestoßen, als ich zur koreanischen Stillleben-Malerei „Chaekgeori“ forschte. In dieser traditionellen Form der Malerei geht es um die Darstellung von Regalen voller Bücher und Gegenstände in illusionistischem und dekorativem Stil. Dabei soll der Einfluss von europäischen „Wunderkammern“ und besonders der „Studioli“ aus Italien zu erkennen sein, was vermuten lässt, dass diese Idee über China nach Korea gebracht worden ist. „Studiolo“ ist ein in der Renaissance entstandener Raumtypus, zum Studieren und Reflektieren. Das „Studiolo“ wird auch für eine Verform des Museums gehalten. Weil RL16 fünf einzelne Räume hat, lag die Idee nahe, nach Vorbild eines Studiolos eine Ausstellung zu entwerfen, die die verschiedenen Aspekte der Räume in sich fasst – also Räume zum Herstellen, Sammeln, Ausstellen, Repräsentieren und Sich-Austauschen.
BB: Das erschließt sich gut. Kommen wir zum Titel Knotenfänger. So nanntest Du Deine Ausstellung im Kunstverein Reutlingen. Beim ersten Lesen habe ich mich gleich gefragt, was das ist, ein „Knotenfänger“? Wie kommt man auf „Knotenfänger“?
SC: Die Räume des Kunstverein Reutlingen befinden sich im historischen Gebäude einer 1869 gegründeten Metalltuch- und Maschinenfabrik. Der Firmengründer Christian Wandel hat ein patentiertes Gerät für die Papierherstellung entwickelt, das die Siebe vor Verschleiß durch grobe Unreinheiten schützte und gleichzeitig für eine konstante Papierdicke sorgte. Diesen Apparat nannte er „Knotenfänger“. Bei meiner Recherche bin ich diesem Wort begegnet. Die Zusammensetzung von zwei gewöhnlichen Wörtern, die eine ungewöhnliche Nuance ergibt, fand ich schön. Meine Ausstellung sollte aber nicht unbedingt diese Geschichte des Hauses direkt illustrieren oder nacherzählen.
Recherche
BB: Das ist doch eine gute Gelegenheit, um auf das Thema Recherche zu kommen. Du hast beschrieben, wie Du auf den Titel Knotenfänger für die Ausstellung in Reutlingen gekommen bist. Durch die Recherche zu dieser besonderen Örtlichkeit. Die Orte, an denen du bisher
ausgestellt hast, waren ja ganz unterschiedliche, etwa Galerien in Ladenräumen, (ehemalige) Gewerbeflächen oder auch Museen. Ich habe jetzt miterlebt, dass Du, um auf einen Ort eingehen zu können, auf verschiedenen Ebenen recherchierst. Dass die Recherche zum Ort ein wichtiger Schritt ist für Deine inhaltliche aber auch formale Planung.
SC: Gebäude und Räume werden in erster Linie für einen Zweck oder eine Funktion entworfen. Wenn sie später umgebaut werden, bleiben Spuren und diese sind oft noch sichtbar und erlebbar. Als Künstler*innen haben wir es ja oft mit Räumen zu tun, die nachtäglich für Kunst umgenutzt werden. Also es sind oft keine neutralen Räume.
Beobachtung und Intuition in Bezug auf Räume und Orte sind für mich immer ein wichtiger Teil. Ich möchte meine Wahrnehmung nutzen wie ein Werkzeug oder Material. Am schönsten „passiert“ es, wenn ich eine neue, noch unbekannte Räumlichkeit bespiele. Ausstellungsräume und -orte fordern mich heraus. So entstehen spezifische Arbeiten erst mal für einen bestimmten Ort. Solche Arbeiten haben aber oft auch das Potenzial, sich später anders zu entfalten oder Bezüge zu neuen Kontexten aufzumachen.
BB: Ein anderer Teil der Recherche betrifft die Frage, wie Du etwas, das Du Dir überlegt hast, umsetzen kannst. Dabei arbeitest Du ja oft mit Spezialisten, mit bestimmten Handwerken zusammen. Wie gehst Du dabei vor und wie dokumentierst Du diesen Teil der Recherche?
SC: Meine Recherche beinhaltet nicht nur das Sammeln und Verknüpfen von Informationen, sondern auch die Suche nach den besten technischen Möglichkeiten und Lösungen für die visuelle Umsetzung. Dabei ist eine gute Zusammenarbeit etwa mit Schreinern und Schlossern wichtig. Die Ergebnisse dieses Teils der Recherche und damit verbundene Erfahrungen werden in meinem Archiv aufbewahrt und möglicherweise später neu genutzt.
BB: Zur Annäherung an einen Ausstellungsraum versuchst Du auch, Literatur zu finden oder Gespräche mit Leuten zu führen, die die Räume besser kennen. Und Du arbeitest, wie bei RL16, mit eigenen, spezifischen Beobachtungen, wenn Du die Möglichkeit hast, Dich im Vorfeld länger dort aufzuhalten …
SC: Genau, das Wissen und die Erkenntnis, die ich durch die Recherche gewinne, bereiten mir den Raum und das Material für die Visualisierung und Produktion. Diese oft langwierigen Vorbereitungen aus verschiedenen Richtungen zielen dann letztendlich auf Kunstwerke als sichtbare und greifbare Substanz. Ich denke, dass ich Kunst mache und Skulpturen baue, weil ich sie letztendlich selber sehen und anfassen möchte. Weil mir allein Ideen oder Vorstellungen nicht ausreichen.
BB: Das heißt, Eigenschaften von Orten sichtbar zu machen durch die Arbeiten, die Du hinzufügst, umgesetzt in Material?
Ausstellen und Herstellen
SC: Genau, so gesehen ist „das Ausstellen“ ein essenzieller Teil für mich, neben dem Konzipieren und Produzieren im Atelier: Weil ich mich auf die Ausstellungsorte oft als Inhalt beziehe und sie kontextualisiere.
BB: Also nicht nur einfach im Atelier etwas machen, sondern für einen Ort, für eine Ausstellung etwas entwickeln, Ideen umsetzen und zeigen. Und dabei auch schon weiterdenken …
SC: Ja, ich denke, dass der Ort zum Ausstellen auch ein Ort der Produktion ist. Oft bekomme ich bei der Vorbereitung einer Ausstellung Ideen für eine nächste, aber noch unbekannte Ausstellung. In diesem Sinne und paradoxerweise wäre das Ziel einer Ausstellung dann nicht (nur) das Präsentieren, sondern auch das Produzieren.
BB: Das ist ein ganz neuer Aspekt …
Materialgeschichte
SC: Ich habe das Gespräch mit Dir zum Anlass genommen, um zurückzublicken, seit wann ich das Material „geschweißtes Stahlgitter“ verwende, das auch in der Ausstellung bei RL16 oft zu sehen ist. „Pattern“ und „Ornament“ interessieren mich seit vielen Jahren und ich habe mich damit auf unterschiedliche Weise auseinandergesetzt. So habe ich angefangen, kulturelle Phänomene in „Rastern“ zu untersuchen und sie skulptural umzusetzen – in Verbindung zu urbanen Strukturen oder architektonischen Details an öffentlichen Plätzen.
Durch die Ausstellung im Museum Nikolaikirche in Berlin 2018 konnte ich diese Themen für mich vertiefen, weil die ortspezifischen Gegebenheiten – eine Kirche als Ausstellungsort – zu einer weiteren Auseinandersetzung einluden. Die Beleuchtungssituation am Ausstellungsort, also im Turmfuß der Kirche, war so prekär, dass ich eine Installation entwickelt habe, in der mit wechselnden farbigen Diaprojektionen als Lichtquelle ein Lichtraum entstand. Vor die Projektionen habe ich Skulpturen aus Stahlgitter gestellt, sodass durch Schatten weitere lesbare Zeichnungsebenen geschaffen wurden. So konnte ich Themen wie Licht, Bild, Abbild, Projektion, Architektur, Natur, Abstraktion, Bewegung, Geschichte, Religion, Präsenz, Absenz, Symbolik etc. ansatzweise zusammenbringen. Mit analogen Diaprojektionen arbeite ich schon seit 2005. Als ich den Ausstellungsort zum ersten Mal besichtigt habe, habe ich dort eine verschiebbare Garderobe vorgefunden. Und diese hat dann bei mir zu der Idee geführt, eine eigenständige Skulptur aus Stahl zu entwickeln, die einer Garderobe formal ähnelt. Es ist nicht immer ein logischer Vorgang, wie meine Arbeiten entstehen. Als ich dort zufällig die Garderobe gesehen habe, kam es mir aber doch aufschlussreich vor, sie einzubeziehen. ?Die Erkenntnis kommt manchmal erst im Nachhinein, also das Verständnis dafür, warum und was ich gemacht habe.
BB: Was meinst Du mit „im Nachhinein“? Wurde es nach der Ausstellung oder während der Produktion noch klarer? Also im Entwicklungsprozess der Ausstellung?
SC: Ich meine, oft verstehe ich erst am Ende eines solchen Prozesses die Verbindungen innerhalb meiner Arbeiten. Die garderobenähnliche Stahlskulptur vor dem Diaprojektor hat eine einfache Form und Ausführung. Sie besteht aus zwei miteinander verbundenen, rahmenartigen Konstruktionen, die über Eck gestellt sind. Sie erinnert an Grundelemente einer Architektur und changiert zwischen zweckloser Skulptur und benutzbarem Mobiliar. Auch vorher habe ich schon einige Skulpturen gemacht, die auf Formen von Gebrauchsmöbeln wie Tisch, Regal, Sitzbank, Behälter oder Bettgestell anspielen. Obwohl sie jeweils aus dem spezifischen Kontext entstanden, gibt es formal-ästhetisch gesehen eine Art Kontinuität. ?Einige Arbeiten bei RL16 sind auch aus dieser Perspektive zu verstehen. Etwa die bemalten Holzskulpturen an der Wand, die wie leere Regale aussahen, die Stahlgestelle für Glasplatten im abgedunkelten Raum und die an eine Sitzbank erinnernde Metallgitterkonstruktion.
In der Ausstellung Karo bei Edition Block in Berlin 2020 habe ich die Beschäftigung mit dem Thema Fenstergitter und Licht weitergeführt, die ich zwei Jahre vorher im Museum Nikolaikirche begonnen hatte. Anstatt Diaprojektionen habe ich computergenerierte Videoprojektionen in Verbindung zu Stahlskulpturen eingesetzt.
Atmosphäre
BB: Bisher haben wir den Begriff „Atmosphäre“ noch gar nicht angesprochen. Die Stimmung im Raum, die Du wahrnimmst oder die Du erzeugst …
SC: Der mittlere Raum bei RL16, der einzige, der abgedunkelt war und von Scheinwerfer beleuchtet wurde, hatte einen besonders bühnenhaften Charakter. Die Installation betitelt Das Kabinett hat mit der Erfahrung der Ausstellung in der Kirche zu tun, die allein durch die Ortsspezifik eine aufgeladene Stimmung hatte. Dagegen wollte ich bei RL16 in einem möglichst neutralen Raum eine Landschaft im Innenraum schaffen, die ein Miniaturmodell einer Stadt oder eine Requisite für ein Theaterstück sein könnte. Seit Jahren setze ich mehrfach Diaprojektionen oder Overhead-Projektoren ein. Das Kabinett führt außerdem zurück zur Ausstellung Vitres, einer Installation, die ich 2021 in einer großen Schauvitrine an einer belebten Straße in Berlin-Moabit – allerdings bei Tageslicht – gezeigt habe. Monochrom bemalte Glasscheiben unterschiedlicher Größe lehnten an Stahlgestellen. Für Das Kabinett bei RL16 habe ich dazu weitere Elemente wie sockelartige Holzpfeiler, Papierrollen und Scheinwerfer kombiniert.
Inszenierung
BB: Siehst Du nicht sogar die gesamte Ausstellung als eine Inszenierung? Die gesamte Ausstellung als Hauptbühne mit vielen kleinen Schauplätzen?
SC: Durchaus habe ich den meisten Räumen bei RL16 Bühnencharakter gegeben, indem ich weiße Papierbahnen wie einen Teppich ausgerollt und Objekte darauf arrangiert habe. Das Papier war nur 120 Gramm dünn, aber es verhielt sich wie ein Podest, wie eine Bühne. Ein Podest hebt das drauf platzierte Objekt hervor und gleichzeitig bildet es eine Grenze zur restlichen Fläche im Raum.
Weil RL16 fünf getrennte Räume hatte, habe ich mir eine Art Route überlegt. Obwohl man keine strickt festgelegte Anweisung zum Rundgang durch die Ausstellung vorgeben kann, fand ich es spannend, mir eine Abfolge zu überlegen und sie subtil einzubauen. Anders als zeitbasierte Kunstformen wie Literatur, Film, Musik, die eine lineare Struktur haben, kann man Kunst in einer Ausstellung ohne feste Reihenfolge räumlich erleben, eben auch rückwärts oder richtungsfrei. Ich denke, dass diese Möglichkeit, also in einer Ausstellung Kunstwerke noch mal und jedes mal wieder anders wahrnehmen zu können, eine große Stärke der Kunst ist.
BB: In verschiedene Richtungen durch eine Kunstausstellung „blättern“ sozusagen …
SC: Wie ich sie konzipiert habe, das ist nur eine Möglichkeit von vielen. Natürlich gibt es Räume, die so etwas ermöglichen, und solche, die es gar nicht zulassen. Die Raumaufteilung bei RL16 war für eine Ausstellung nicht ganz so einfach, wie man vermuten würde, weil es sich um den Schnitt einer typischen Altbauwohnung handelt, die mehrfach umgebaut wurde. Ein Dilemma für mich war der erste Raum, den man vom Gang aus als Ersten betritt. Diesen Raum hätte man fast als einen Durchgang sehen können.
BB: Ja, vom Eingang aus kommt man rechts in einen kleineren Raum, durch den man dann wieder in einen sehr großen Raum kommt.
SC: Ja genau, diesen großen Raum, der dahinter versteckt ist, habe ich beim Entwerfen als ersten Raum definiert, von dort wollte ich eine Inszenierung ausloten und aufbauen. Um in diesen großen Raum zu gelangen, musste man aber erst den kleinen Raum durchqueren.
BB: Du konnte also nicht direkt anfangen …
SC: Ich habe dann aber doch eine gute Lösung für diesen Übergangsraum gefunden, indem ich Wände und Boden mit großformatigen Papierarbeiten mit Gittermustern bedeckt habe. Der Raum war gefüllt mit grafischer Abstraktion, die dann im großen Raum in einem anderen Format und Material fortgesetzt wurde.
Ich wollte, dass die Besucher*innen meine Inszenierung erst mal als Stimmung spüren. Gleichzeitig wollte ich, dass die Ausstellung durchdacht und nicht beliebig wirkt. Visuell und inhaltlich durchgezogen hat sich das Motiv des Gitterrasters. In der Struktur der Stahlskulpturen und als gedruckte Form auf Papier, als Tapeten- und Teppichmuster oder als Jackendesign war es über alle Räume verteilt.
Studiolo
BB: Oder auch auf kleinen Objekten auf den Bühnen aus Papier …
SC: Genau, einige der Objekte waren aus Papier gefaltet und sahen aus wie Messlatten. Sie lagen neben den zu Winkeln verbundenen kleinen Glasplatten und den Orangen auf der Papierbahn. Bei Studiolo I, also im ersten großen Raum, stellte ich eine gestellartige Stahlskulptur mit Gittereinlage dazu.
BB: Wobei genau diese Arbeit auch schon im Kunstverein Reutlingen zu sehen war.
SC: Ursprünglich wurde sie konzipiert und gezeigt als Siebmaschine – mit Bezug auf den Apparat namens „Knotenfänger“. Für RL16 habe ich die Konstruktion der Skulptur modifiziert. Ich habe sie dann nicht mehr als eigenständige Skulptur gezeigt wie in Reutlingen, sondern als Teil einer Installation. Die massive Stahlskulptur stand neben den modellhaften kleinen Objekten auf der großen Papierbahn, sodass sie fast wie ein stark verkleinerter Skelettbau eines Parkhaus wirkte. Man konnte die gesamte Installation als eine Art Skalierung sehen.
BB: Und die Regale? Welche neue Funktion und Bedeutung sollten die bekommen??
SC: Die zugrundeliegende Holzskulptur erinnert in Gestalt und Bau an ein kastenförmiges Hängeregal. Aus der koreanischen Stillleben-Malerei „Chaekgeori”, die Ende des
18. Jahrhunderts entstand, habe ich dreidimensionale Skulpturen abgeleitet. Wie bereits kurz erklärt, sind in dieser Malerei in illusionistisch-realistischem Stil oft Kompositionen aus Büchern und Objekten wie Keramik, Früchte, Blumen oder Schreibutensilien in Regalen dargestellt. Regale sind Orte, in denen Dinge gesammelt, gelagert, auch ausgestellt und repräsentiert werden. Ursprünglich sind für die Ausstellung in Reutlingen vier Regale entstanden. Symbolisch habe ich jedes davon einer Berufsgruppe gewidmet: Handwerkern, Bauern, Wissenschaftlern und Künstlern. Bei RL16 habe ich mich entschieden, nur zwei Regalskulpturen zu zeigen und zwar ohne die dazu gehörigen Objekte.
BB: Sodass man eigene Gedanken reinprojizieren kann?
SC: Indem man etwas wegnimmt oder ausräumt, kann man mehr zeigen. Diese leerbleibenden Flächen boten eine Möglichkeit, sich selbst einen Inhalt vorzustellen.
BB: Wie Du vorhin kurz erwähnt hast, gab es bei der Arbeit Studiolo II im hintersten, letzten Raum auch einen Bezug nach außen – und zwar durch eingefangene Spiegelungen der Umgebungsarchitektur.
SC: Ja, durch das große Fenster hat man einen direkten Blick auf die Rückseite eines imposanten, in der DDR-Zeit gebauten Plattenbaus auf der Karl-Liebknecht-Straße, die ein sehr strenges Muster hat. Sie fügte sich zwangsläufig, aber wunderbar als Hintergrund meiner Installation in den Raum. Als ich den Raum zum ersten Mal betrat, hatte ich das Gefühl, dass ich diese Gegebenheit auf jeden Fall berücksichtigen muss, weil der Ausblick so präsent war und mich fasziniert hat, auch wegen der aufdringlichen Radikalität und Geschichtlichkeit. Auf der Papierbahn vor dem Fenster war dann auch ein Ensemble von kleinen Objekten zu sehen, das mit dem Blick aus dem Fenster korrespondierte.
BB: Mir ist nicht ganz klar, wie Du die Platzierung der Glasscheiben auf dem weißen Papier vorgenommen hast, sodass in diesen eine Spiegelung der Fassade ermöglicht wurde. Hast Du ausprobiert, ob und wie das funktioniert, oder hat sich das dann eher zufällig ergeben am Ende?
SC: Die erste Idee war, dass sich meine vasenartigen Stahlobjekte in den Glasscheiben auf dem Boden spiegeln sollten. Eine Art Verdoppelung der Objekte, die den Eindruck einer Miniatur-Stadtlandschaft verstärken sollte. Dass sich auch die Umgebungsarchitektur darin spiegeln würde, damit habe ich nicht unbedingt gerechnet, als ich die Installation entwarf. Es hat sich erst vor Ort beim Aufbau herausgestellt. Ich habe dann weitere Glasplatten so platziert, dass die Spiegelung der gegenüberliegenden Fassade gut sichtbar wurde. Genauso wie böse Überraschung gibt es beim Aufbau auch glückliche Fügungen der Zufälle.
Blaumänner, Papierjacken
BB: Ich möchte Dich auch noch zum Thema Performance befragen. Ausgangspunkt dafür sind die Papiergitterjacken, die Du in Reutlingen als Kunstobjekte aufgestellt hast: Jacken, die Du selber nach Blaumännern aus Stoff nachgebaut hast, aus Papier. Die hast Du dann nach längerem Überlegen auch bei RL16 in die Ausstellung eingebaut.
SC: In Reutlingen ging es ja darum, Fragen nachzugehen und sie künstlerisch umzusetzen, die mit der Geschichte und Ortspezifik eines Fabrikgebäudes zusammenhingen. Dabei thematisierte ich Assoziationsketten um Arbeit und Produktion. Gleichzeitig habe ich an verschiedene Bereiche einer Fabrik gedacht. So entstanden beispielsweise Stahlskulpturen, die eine formale Verbindung zur Arbeiter-Umkleide und zu Spinden hatten. Einige andere Skulpturen wiederum verwiesen auf die Einrichtung von Lagerräumen oder Produktionshallen. So bin ich schließlich auch auf Arbeitskleidung, besonders die Blaumann-Jacke gekommen.
Zuerst habe ich Blaumann-Jacken in verschiedenen Farbabstufungen und Schnitten gesammelt und als Bestandteil für eine Installation verwendet. Und dann erfuhr ich, dass die ehemals in der Halle produzierten industriellen Siebe ausschließlich zur Herstellung von Papier eingesetzt wurden. So wollte ich eine Skulptur aus Papier schaffen, die nach einer Arbeiterjacke aussieht und theoretisch tragbar ist, aber dann doch zu fragil. Die Idee, das Sinnlose dann doch zu realisieren und ihm einen Sinn zu geben, gefiel mir auch als Geste. Um die Idee vom „Bauen“ zu betonen, habe ich zunächst Papiere in der Größe DIN A4 vorbereitet und darauf mithilfe von Fotogramm und digitaler Technik Gittermuster gedruckt. Schließlich habe ich die einzelnen Blätter zusammengeklebt und daraus große Bögen gewonnen, die sich wie Stoffbahnen verhielten. Dann habe ich sie nach dem Schnittmuster von Blaumann-Jacken geschneidert und zusammengeklebt.
BB: Bei RL16 bist Du bist dann dazu übergegangen, diese Jacken zu tragen oder weitere Jacken auch aus Stoff vorzubereiten, die Du teilweise mit Gittermuster bemalt hast, um sie selbst oder mit Gästen zusammen in der Ausstellung in Szene zu setzen. Außerdem gibt es Fotos von Dir, auf denen man Dich sieht, wie Du mit so einer Jacke bekleidet Sprünge machst in Deiner Ausstellung …
SC: Für die Ausstellung habe ich die Jacken aus Papier eigentlich erst mal nur als Skulptur konzipiert. Der Boden im Raum war mit großformatigen Papiercollagen bedeckt. Darauf habe ich zwei blaue Papierjacken, zusammengesetzt aus Fotogrammen, aufrecht einander gegenübergestellt. Eine Papierjacke in Schwarzweiß legte ich flach daneben, sie sah fast wie eine übergroße Papierfaltung aus.
Wenn ich zurückdenke, ist die Entscheidung, die Jacken zu tragen, nach einer inneren Logik und Notwendigkeit fast von allein zustande gekommen. Dass die Papierjacken Gegenstand einer „Performativen Intervention“ bei der Finissage geworden sind, kann ich mir nur so erklären. Vielleicht wollte ich selber die feste Anordnung und Struktur der Ausstellung brechen oder zum Ende hin etwas auflockern oder durcheinanderbringen.
Performative Intervention
BB: Wie kam es dazu, dass die Jacken dann wirklich getragen wurden und zu einer Art Uniform für die Ausstellungsbesucher*innen geworden sind? Hatte das auch damit zu tun, dass es in der Ausstellung die Möglichkeit gab, so viel herumzulaufen? Und weil in den verschiedenen Räumen das Gittermotiv immer wieder aufgetaucht ist, das auch im Muster der Jacken enthalten war? Also konnte die Jacke immer in Bezug auch zu den Objekten gesehen oder platziert werden?
SC: Deine Beobachtung ist sehr treffend. Ich wollte etwas sehen, etwas Bewegtes, also ein laufendes Gitter im Raum! Es gab lustige Momente, als ein Besucher die Jacke mit Gittermuster trug und direkt hinter der Gitterskulptur Behälter stand. Die Muster gingen nahtlos ineinander über. Camouflage! Nicht nur mich selbst als Akteurin zu begreifen, sondern die Besucher*innen zu einer performativen Handlung zu bewegen, das fand ich interessant.
BB: Das war also während der Ausstellung noch offen, noch in einer Entwicklung …?
SC: Ja, die Idee hat sich ergeben, dass etwas Unvorhersehbares passieren sollte, weil es ja keine Aufführung gab, sondern alles spontan und persönlich blieb. Es gab kein Gelingen oder Misslingen.
BB: Es war ein Experiment.
SC: Ich habe beobachtet, dass das Mitmachen, das Performative, eine Art Überwindung oder Herausforderung, aber auch Freude für die Besucher*innen bedeutete. Um die Körperhaltung oder Gesichtsausdrücke der Besucher*innen und die Stimmung im Raum festzuhalten, habe ich sie fotografiert.
BB: Und hast Du schon Vorhaben, wie Du weiter in diese Richtung arbeiten könntest? Ist bereits eine Idee vorhanden?
SC: Die allerersten Jacken waren ja aus Papier. Anlässlich der „Performativen Intervention“ bei RL16 hatte ich ja herkömmliche Arbeiterjacken aus Stoff modifiziert, indem ich Raster darauf gemalt oder auch Papier-Ausdrucke darauf befestigt habe, die einen kunsthistorischen Bezug zum Gittermotiv haben.
Vor ein paar Tagen habe ich dann Fotoaufnahmen in einem Studio gemacht, weil ich inzwischen weitere Jacken angefertigt hatte. Dabei habe ich auch bemalte Herren-Arbeitshosen getragen, die mir viel zu groß sind. Und einige Jacken, die ganz steife Formen bekommen haben, weil ich sie mit Gesso bearbeitet habe.
Identität
BB: Auf den neuen Fotos sieht man Dich in verschiedener von Dir angefertigter „Arbeitskleidung“ vor einem weißen Studiohintergrund in die Luft springen …?
SC: Es gibt ein Spannungsfeld, das mit einer Unentschiedenheit zwischen Kontrolle und Kontrollverlust aufgeladen ist. Und wenn ich springe bei einer Aufnahme, kann es zu mehreren Zufällen kommen. Mir gefällt die Form der Aufführung mit den Jacken und das fotografische Festhalten als Methode, weil sie eine Art Gegenteil meiner bildhauerischen Praxis sind. Ich arbeite ja gerne mit klassischem Baumaterial wie Stahl, Beton, Stein, Holz und Glas. Und meine Skulpturen und Installationen haben meistens physische und statische Präsenz im Raum.?Obwohl meine Aufmerksamkeit nach außen, also in die Welt gerichtet ist, reflektiere ich in meiner Kunst auch meine Emotionen. Ich glaube, dass sie unterschwellig mitschwingen. ?Wenn ich diese übergroße Männerjacke trage und dann in einer Szene eine scheinbar ungeübte und zweckfreie Bewegung mache und mich dabei fotografieren lasse, kann ich einen unbestimmten inneren Zustand für einen Moment sichtbar machen, der mein momentanes Lebensgefühl reflektiert. Es ist die Frage der Identität – Geschlecht, Alter, kulturelle Herkunft, sozialer und gesellschaftlicher Status … –, die mich immer wieder begleitet. Oft habe ich das Gefühl, irgendwo dazwischen zu schweben.
BB: Ist das auch deshalb interessant, weil Du Dich selbst erst später siehst auf den Fotos, in vielleicht überraschenden Konstellationen …?
SC: Ja, das gibt dann auch bestimmte Arbeitsprozesse wieder. Manchmal musst Du als Künstlerin nur folgen, wo die Kunstwerke hin wollen. Obwohl es sich komisch anhört …
BB: Und das dann mit Abstand von außen sehen …?
SC: Es geht um eine Akkumulation und Kombination von Ideen und Materie, um eine Zusammensetzung von Gesehenem und Erlebtem, die lediglich nur DU selbst herstellen kannst. Das macht Dich und Deine Kunst letztendlich aus. Du hast die Idee oder die Vision. Sie nehmen Form und Farbe an in Bezug auf Zeit und Ort.
Ich mache oft die Erfahrung, wenn die Richtung stimmt, läuft das Ganze von allein.
BB: Das ist doch schön, oder?
SC: Ja, und so war es bei der Ausstellung Studiolo bei RL16.
BB: Das ist doch ein guter Schluss. Vielen Dank, dass ich diese besondere Ausstellung zusammen mit Dir für RL16 verwirklichen konnte! Es war eine sehr intensive Erfahrung.
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Daten zu den besprochenen Einzelausstellungen von Sunah Choi
Skala, Hannah-Höch-Förderpreis 2018, Museum Nikolaikirche, Berlin, 28.09.–25.11.2018
Karo, Edition Block, Berlin, 21.02.–15.08.2020
Knotenfänger, Kunstverein Reutlingen, 30.05–03.10.2021
Vitres, Vitrine Rathaus Tiergarten, Berlin, 01.06–30.06.2021
Studiolo, RL16, Berlin, 03.03.–01.05.2022
Rosa, Galerie Johann Widauer, Innsbruck, 23.09.–28.10.2022
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Barbara Buchmaier ist Kunstkritikerin und Autorin. Sie war 2021-2022 künstlerische und kuratorische Leiterin bei RL16.